SPD-Parteitag 7.-9.12.1999 - Beschluss IR 24

Neue Wege zur Chancengleichheit -
Frauenpolitik ist innovative Gesellschaftspolitik

Das Wahlergebnis vom 27. September 1998 und die Bildung einer Bundesregierung unter sozialdemokratischer Führung haben die Voraussetzungen für einen Politikwechsel geschaffen, für den Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten unter dem Motto "Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit" lange gestritten haben. Ein wesentlicher Bestandteil einer neuen Politik sind der mit Wahlprogramm und Koalitionsvereinbarung zugesagte neue Aufbruch in der Frauenpolitik und das Versprechen, die Gleichstellung von Frauen und Männern zu einem großen gesellschaftlichen Reformprojekt zu machen. Nicht zuletzt dieses Versprechen hat uns das Vertrauen der Mehrzahl der Wählerinnen verschafft. Es ist unser fester Wille, dieses Vertrauen zu rechtfertigen und eine Gleichstellungspolitik auf den Weg zu bringen, die ihren Namen auch verdient und den jahrelangen Stillstand unter der konservativ-liberalen Vorgängerregierung überwindet.

Erste Weichen sind gestellt:

Weiter auf dem gleichstellungspolitischen Programm:

Die Umsetzung der frauen- und gleichstellungspolitischen Programmatik der SPD wird untermauert durch das verfassungsrechtliche Gebot im Artikel 3 des Grundgesetzes zur aktiven staatlichen Förderung der Chancengleichheit von Männern und Frauen und nicht zuletzt durch den am

1. Mai 1999 in Kraft getretenen Vertrag von Amsterdam der Europäischen Union mit dem darin verankerten Prinzip des "Gender-mainstreaming", das zur Beachtung des Gleichstellungsanspruchs der Geschlechter in allen Politikbereichen verpflichtet. Diese Rechtsgrundlagen verlangen geeignete Anstrengungen, der rechtlichen endlich auch die tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern folgen zu lassen.

Inzwischen liegt der "Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen" mit einem umfassenden Maßnahmenbündel zum Schutz von Frauen vor häuslicher und sonstiger Gewalt vor, der auch zur gesellschaftlichen Ächtung von Gewalt (nicht nur an Frauen!) beitragen soll. SPD-Frauenministerin Christine Bergmann hat als Ratspräsidentin in der deutschen EU-Präsidentschaft das mit 20 Millionen Euro ausgestattete EU-Programm "Daphne" für eine Laufzeit von vier Jahren im Ministerrat durchgesetzt, das die Bekämpfung jeder Form von physischer, sexueller und psychischer Gewalt an Frauen, Jugendlichen und Kindern zum Ziel hat und daher im Jahr 2000 nahtlos an die auslaufende Pilotphase anschließen kann. Voraussichtlich werden Europäisches Parlament und Rat bis Jahresende zu einer gemeinsamen Entscheidung kommen, damit das Programm im Jahr 2000 nahtlos an die Pilotphase anschließen kann.

Soziale Gerechtigkeit und eine emanzipatorische Politik bilden nach wie vor den Kern sozialdemokratischer Politik. Das Prinzip der Chancengleichheit ist für uns der Leitbegriff für eine moderne und gleichzeitig innovative Gesellschaftspolitik für das 21. Jahrhundert. Das gilt unabhängig von ökonomischen Konjunkturen, und das gilt auch unabhängig von der Notwendigkeit der Haushaltskonsolidierung, zu der wir uns ausdrücklich bekennen, die aber nicht auf Kosten und zu Lasten von Frauen gehen darf.

Wir wissen, dass in der ungleichen Verteilung von Arbeit, Einkommen und gesellschaftlicher Macht die Ursachen für die Ungleichverteilung der Chancen von Männern und Frauen in unserer Gesellschaft liegen. Arbeitslosigkeit, mangelnde Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Armut im Alter und eine eklatante Unterrepräsentanz in Führungs- und Entscheidungsfunktionen prägen die Lebenswirklichkeit von Frauen und verringern damit ihre Lebenschancen. Daher begrüßen wir ausdrücklich das Bestreben der Bundesregierung, im Rahmen des "Gender-mainstreaming" die Geschlechterperspektive in allen Ressorts zu verankern und damit ein strukturelles Mittel anzuwenden, das Chancengleichheit zum Maßstab des politischen Handelns machen will.

Wir wissen, dass große Reformvorhaben ihre Zeit brauchen und dass der gesellschaftliche Dialog mit den beteiligten (Interessen-)Gruppen unerlässlich ist, aber genauso gilt, dass die zögerliche Umsetzung von in Aus-sicht gestellten Reformen Gefahr läuft, das Vertrauen der Wählerinnen (und Wähler) zu verspielen.

Prüfaufträge und lnformationskampagnen sind wichtige Elemente von zielorientierter Regierungspolitik, aber sie müssen mit einer zeitlichen Zielperspektive für die politischen und gesetzlichen Konsequenzen versehen werden.

Die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Männer und Frauen ist ein wesentlicher Schlüssel zur Chancengleichheit in allen gesellschaftlichen Bereichen. Dabei erkennen wir den Anspruch von Frauen auf Erwerbsarbeit ausdrücklich an. Wir wollen das politisch Notwendige tun, um die Umsetzung dieses Anspruches von Frauen zu erleichtern. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Möglichkeit der gleichzeitigen Inan-spruchnahme des Erziehungsurlaubs durch Väter und Mütter sowie ein Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit für die Dauer des Erziehungsurlaubs. Wir fordern die Bundesregierung auf, den Vorgaben der Europäischen Union zügig nachzukommen und alle Dialogmöglichkeiten mit den Tarifpartnern, u.a. im Bündnis für Arbeit, zu nutzen, um Akzeptanz für diese Maßnahmen zu erreichen.

Der Erweiterung des Spielraums für die Inanspruchnahme des Erziehungsurlaubs müssen weitere Anstrengungen zur Verbesserung des Angebotes an Kinderbetreuungseinrichtungen entsprechen. Das gilt insbesondere für die verlässliche Ganztagsbetreuung. Wir fordern die Bundesregierung auf, gemeinsam mit den Ländern und Kommunen zügig einen Maßnahmenkatalog zu vereinbaren, um die Ganztagsbetreuungsmöglichkeiten dort zu erweitern, wo es bisher nur eine Minimalversorgung gibt, also vornehmlich in den alten Bundesländern.

Ein weiteres Kernstück sozialdemokratischer Frauen- und Gleichstellungspolitik sind verbindliche rechtliche Regelungen für Ausbildung, Einstellung, Beförderung und Aufstiegschancen von Frauen in Unternehmen und Verwaltungen aller Art. Ein verbessertes Gleichstellungsgesetz für Frauenförderung im öffentlichen Dienst, das Umsetzungsreife erreicht hat, wird wesentliche Lücken der unzureichenden Regelungen aus der Kohl-Ära schliessen.

Die SPD steht aber auch bei den in der Privatwirtschaft tätigen Frauen im Wort. Daher ist es zu begrüßen, dass ein beim Frauenministerium angesiedelter Kreis von Expertinnen und Experten dabei ist, Möglichkeiten ergebnisorientierter Frauenförderung in der Privatwirtschaft in ein praktikables Handlungskonzept zu fassen und zur politischen Umsetzung einzuspeisen. Wir sind uns bewusst, dass es die Vorbehalte derer zu entkräften gilt, die verbindliche Regelungen für die Privatwirtschaft als unbot-mäßigen Eingriff in die unternehmerische Freiheit verstehen. Darum geht es wahrlich nicht, sondern um die Chance für Unternehmen, vom Innovationspotential gut (aus-)gebildeter Frauen mit politischer Unterstützung zu profitieren. Wer die Qualität seiner Produkte oder Dienstleistungsangebote noch durch die Qualität einer frauenfreundlichen Personalpolitik zu erhöhen bereit ist, soll belohnt werden. Dabei kann der Bund auf positive Beispiele auf Länderebene, etwa in Form von bevorzugter Auftragsvergabe an frauenfreundliche Betriebe, zurückgreifen. Von großer Bedeutung ist auch eine frauen- und familienfreundliche Arbeitszeitpolitik für Männer und Frauen, die Raum lässt für Kindererziehung oder die Übernahme von Pflegeaufgaben oder auch Weiterbildung. Das ist ebenso ein Thema für das Bündnis für Arbeit wie Fragen der beruflichen Wiedereingliederung nach einer Familienphase oder die (heute mangelnde) Bereitschaft von Unternehmen, Teilzeitbeschäftigten nach Erziehungszeiten wieder den Einstieg in eine Vollzeitbeschäftigung zu ermöglichen. Das würde insbesondere die Bereitschaft von Männern zu vorübergehender Teilzeitarbeit erhöhen.

Die Verwirklichung einer eigenständigen Alterssicherung von Frauen ist eines der wichtigsten Vorhaben im Rahmen einer Reform der Rentenversicherung. Die Abkehr von der abgeleiteten sozialen Sicherung von Frauen und die Möglichkeit einer eigenständigen Existenzsicherung sind Meilensteine im Rahmen der notwendigen Modernisierung unseres Sozialstaates. Die Bundesregierung wird aufgefordert, möglichst rasch ein Konzept für ein Teilhabemodell vorzulegen, das z.B. ein laufendes Ren-tensplitting während der Ehe garantiert.

Die letzten Monate haben uns gelehrt: Der Abstand zwischen Hoffnung, Erwartung und Enttäuschung ist schmal. Der versprochene Aufbruch für eine neue Frauen- und Gleichstellungspolitik hat für die öffentliche Wahrnehmung allzu unspektakulär begonnen. Wir wollen ihn beherzt fortsetzen.